Sexuelle Belästigung an den Seen um Leipzig: Alltag oder Einzelfall?

Fast alle ihrer Freundinnen mussten Belästigungen an den Seen rund um Leipzig über sich ergehen lassen – dann hat es Franka gereicht. Sie gründete eine Chatgruppe für schnelle Unterstützung. Die Polizei wird dagegen kaum eingeschaltet.

Die Nachrichten, die vor allem während der Badesaison in Telegram-Gruppen kursieren, sind unmissverständlich. „Ekliger Mann an Cossi macht Fotos von Ärschen mit seinem Handy. Achtung!“ In weiteren Nachrichten berichten Personen davon, wie Männer am Kulkwitzer See bei ihrem Anblick masturbiert hätten. „Passt auf euch auf“, warnen sie.

Andere Nachrichten aus dem vergangenen Sommer beschreiben, wie Frauen beim Nacktbaden gefilmt, aus dem Gebüsch heraus beobachtet wurden. Einmal warnen sich die Mitglieder der Gruppe gar vor einer Drohne, die über den FKK-Strand am Kulkwitzer See geflogen, in der Luft vor den Menschen gehalten haben soll – um dort vermutlich Foto- oder Videoaufnahmen zu machen.

Eine Telegram-Chatgruppe soll helfen

Eine dieser Chatgruppen gibt es, weil es Franka Grella-Schmidt und ihren Freundinnen irgendwann zu viel wurde. „Wir haben selbst sexuelle Übergriffe am Cospudener See erlebt und kannten viele weitere Erzählungen von Freundinnen.“ Jahr für Jahr seien neue, unangenehme Erfahrungen hinzugekommen. „Frauen wurden angefasst, abgeleckt und angegriffen. Das hat uns wütend gemacht. Wir wollten etwas dagegen unternehmen.“

Im Frühjahr 2021 gründete die heute 31-Jährige mit Freundinnen die Telegram-Gruppe, damit es mehr Möglichkeiten als „aushalten“ und „Sachen packen“ gibt und sich Betroffene unkompliziert und schnell Unterstützung holen können. Wie das funktioniert? Standort teilen, und wer von den 680 Gruppenmitgliedern gerade in der Nähe ist, kommt und hilft.

Zwar werde die Gruppe seltener für akute Hilfe genutzt, häufiger tauschen sich Betroffene über ihre Erfahrungen aus. „Das ist schon sehr viel wert“, meint Franka. Und schätzt: „95 Prozent meiner Freundinnen mussten so etwas schon an den Seen erleben.“

Polizei registriert nur wenige Fälle

Einen Überblick über die Situation an den Seen sollte die Polizei haben. Doch tatsächlich ist eine Einschätzung nicht leicht. Das liege zum Teil an der Schwierigkeit, alle Fälle, die unter „sexuelle Belästigung und Übergriffe“ fallen könnten, strafrechtlich relevant zu filtern, wie Polizeisprecherin Therese Leverenz erklärt. Und: Nur angezeigte Fälle tauchen in der Statistik auf.

So kommt die Polizei für das Jahr 2023 auf zehn Fälle, die an Cospudener, Markkleeberger, Zwenkauer, Kulkwitzer und Störmthaler See bekannt geworden sind. Dabei handle es sich um „vorrangig exhibitionistische Handlungen“. Die Tatverdächtigen seien ausschließlich männlich, bei einem Drittel der Fälle konnten Tatverdächtige gestellt werden.

Im laufenden Jahr seien bisher nur einzelne Fälle verzeichnet worden. Und auch die Stadt Leipzig hat für das Jahr 2023 nur eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung am Kulkwitzer See vorliegen – diese sei vor Ort geprüft worden, bestätigte sich allerdings nicht. Christian Conrad, Geschäftsführer der Seen GmbH, die unter anderem den Cospudener und Kulkwitzer See betreut, meint: „Bei allen Aufgaben und Herausforderungen hat das Thema glücklicherweise keine Bedeutung.“

Beraterin: Anzeigen bei Polizei zeigen nur Bruchteil der Fälle

So richtig wollen die Berichte von Franka und der Chatgruppe nicht zu den Statistiken von Polizei und Stadt passen. Das ist aber nicht weiter verwunderlich, meint eine Expertin der Fachberatungsstelle „Bellis e. V.“ in Leipzig, die Betroffene sexualisierter Übergriffe und Gewalt aus der ganzen Region berät. Die Seen würden beim Verein als Tatumfeld zwar nicht besonders hervorstechen. Unter anderem auch deswegen, weil von Hilfesuchenden in den Beratungen keine Details erwartet würden.

Doch die Expertin ist sich sicher: Die von der Polizei registrierten Anzeigen sind nur ein kleiner Teil dessen, was an den Seen passiert. „Generell wird nur ein Bruchteil der Übergriffe angezeigt und davon wiederum nur ein Bruchteil verurteilt.“

Mehrere Gründe würden die Betroffenen von einer Anzeige abhalten: die Unsicherheit darüber, was überhaupt geschehen ist und ob es sich dabei um Gewalt handelt, ob die Tat überhaupt juristische Konsequenzen für den Täter haben würde und nicht zuletzt die Frage nach Erfolg einer Anzeige. „Gleichzeitig braucht die Polizei und deren Opferschutzbeauftragte Anzeigen und Berichte, um tätig zu werden und eine saubere Statistik führen zu können.“

Die Seen dienen Tätern als sicheres Umfeld

Die Seen selbst würden Faktoren vereinen, die die Orte für Täter attraktiv machen könnten. „Die Mischung aus Privatheit und öffentlichem Raum ermöglicht es den Tätern, auf Abstand und unerkannt zu bleiben – oder sich zwischen Büschen zu verstecken.“

Diese „Halböffentlichkeit“ sei für Täter ein relativ sicheres Umfeld, erklärt die Psychologin. Deswegen appelliert sie an ein gutes Miteinander. „Sich gegenseitig aufmerksam machen und unterstützen kann in solchen Situationen gut helfen.“ Dementsprechend sei die Chatgruppe eine gute Initiative.

Aber: All das reiche nicht aus. „Täter dürfen sich nicht mehr sicher fühlen. Es muss klar sein, welche massiven Belastungen solche Übergriffe für die Betroffenen bedeuten. Stattdessen sollte mehr gegenseitige Solidarität gelebt und den Betroffenen zweifellos geglaubt werden.“

Und auch für Franka verkörpern die Situationen am See nur die Spitze des Eisbergs. „Viel zu oft zeigen Pornos, Filme und die Werbung, dass übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen normal – oder schlimmer noch – sogar gewollt ist. Doch das ist es nicht. Es ist falsch und gefährlich.“

Hier können Betroffene Unterstützung finden

Über den Link https.//t.me/+O5g97oRD3KgwYzQy können Interessierte der Chatgruppe auf der App Telegram beitreten.

Wer unangenehme Erfahrungen gemacht hat, kann sich – auch lange Zeit später – bei Frauenberatungsstellen melden.

Der Verein „Bellis e.V. Leipzig“ bietet erwachsenen Betroffenen von sexualisierter und häuslicher Gewalt Unterstützung an. Adresse: Weißenfelser Straße 48a, 04229 Leipzig. Tel.: 0341 39285565; Mail: beratung@bellis-leipzig.de

Auch die Fach- und Beratungsstelle bei sexualisierter Gewalt steht unter fub@frauenfuerfrauen-leipzig.de zur Verfügung. 24-Stunden-Notruf bei sexualisierter Gewalt: 0341 3061088